Der Täter kommt Schlag elf

Wie ein Hellseher den diebischen Lippstädter L. zur Strecke brachte.

Luise Reilmann war verzweifelt. Die Mastholter Wirtin wurde alle zwölf Monate Opfer eines Diebes. Ein Unbekannter nutzte den Trubel des Jakobimarkts, um im Reilmann’schen Gasthof alles zu stehlen, dessen er habhaft werden konnte. Seit 1921 ging das schon so. Nun stand der Jakobimarkt 1924 vor der Tür – und die im Grunde ihres Wesens unerschrockene Witwe befürchtete erneut das Schlimmste. In ihrer Not ergriff sie einen esoterischen Strohhalm. Ein Mann namens Theodor Petzold machte seinerzeit Furore. Der als „Hellseher von Bielefeld“ weithin bekannte wurde täglich von dutzenden Ratsuchenden aus Stadt und Land aufgesucht. Nicht wenige erzählten sich von ihm Wunderdinge. Andere taten ihn als Scharlatan ab. Einer der Skeptiker stellte den prominenten Bielefelder eines Nachts auf die Probe und verrichtete vor der Petzold’schen Villa ein großes Geschäft. Danach heftete er einen Zettel mit einem Spottvers an die Tür: „Petzold, du willst alles wissen – wer hat vor die Tür geschissen?“ Als der Wahrsager morgens um sieben aus seinem Haus treten wollte, wurde ihm folgerichtig braun vor Augen. Da es um seine Reputation ging, bemühte der stolze Petzold, der sich selbst nie als Hellseher, sondern als „Magnetopathen“ bezeichnete, seinen sechsten Sinn – und fand die Antwort. Eine Stunde später machte die Kripo den Häufchen-Attentäter dingfest.

Luise Reilmann: Wirtin im Gasthof Reilmann, Geb. 1867, verst. 1957

Wer sonst, wenn nicht Petzold?, sagte sich die hilfesuchende Witwe Reilmann in Mastholte. Ein paar Tage vor Jakobi schickte sie ihren Schwiegersohn Heinrich Hollenbeck nach Bielefeld. Der Hellseher, dessen Visage an den italienischen Faschistenführer Benito Mussolini erinnerte, ließ sich den Fall des notorischen Jahrmarktdiebs vortragen. Dann versetzte er sich in Trance, wirbelte ekstatisch wie ein Derwisch umher, spreizte die Finger und sah mit großen, funkelnden Augen traumverloren ins Leere. Schließlich kam es stockend aus ihm heraus, mit geisterhaft tönender Stimme: „Der Dieb wird auch dieses Jahr zum Jakobimarkt kommen, ich sehe einen Mann mit schwarzem Haar, kräftig und untersetzt, Glockenschlag elf ins Reilmann’sche Haus eintreten. Er geht sofort durch die Menschenmenge im Schankraum zur Treppe, steigt sie hinauf und – ich sehe ihn nicht mehr – er verschwindet in einem dunklen Gang. Dieser Mann ist der gesuchte Dieb.“ Endlich erwachte Petzold aus seiner Trance, rieb sich erschöpft die Augen, kam aber immerhin so weit zu sich, dass er sein Honorar einstreichen konnte.

Heinrich Hollenbeck berichtete alles seiner Schwiegermutter, die sich mit der Polizei in Verbindung setzte.  Oberwachtmeister Thesmann war nicht sonderlich abergläubisch, wollte es aber darauf ankommen lassen. Er sorgte dafür, dass Heinrich Hollenbecks Bruder Bernhard sich am Jakobitag als Wächter unten im überfüllten Gasthof postierte, während er selbst sich in der Nähe bereit hielt. Bis 10.00 Uhr hatte sich noch kein Verdächtiger unter die Gäste im Haus gemischt, Luise Reilmann hielt es vor Spannung kaum aus. Als die Uhr des nahen Kirchturms endlich elf schlug, öffnete sich die Tür. Ein kräftiger, untersetzter Mann mit schwarzem Haar trat ein, drängte sich durch die Masse der vor der Theke versammelten Zecher und stieg gemessenen Schrittes, aber zielstrebig die Treppe hinauf. Angesichts des Trubels im Schankraum wähnte er sich unbeachtet, doch Bernhard Hollenbeck hatte aufgepasst. Er musste sich bremsen, um nicht zu früh Alarm zu schlagen.

Dorfpolizist Karl Thesmann während d. 2. Weltkrieges

Erst nach fünf endlos erscheinenden Minuten – auf den Zimmern hatte man Gold- und Silberschmuck als Köder angehäuft – rief Bernhard Hollenbeck die versteckt auf dem Nachbargrundstück harrende Polizei herbei. Als der Dieb die eilenden Schritte auf der Treppe hörte, versuchte er sich mitsamt seiner Beute in der Räucherkammer zu verstecken. Vergeblich. Einen Moment später wurde der Mann festgenommen und ins Rietberger Gerichtsgefängnis abgeführt. Beim Verhör gab er zunächst einen falschen Namen an, rückte aber schließlich mit dem richtigen Namen heraus: Hermann L., 45-jähriger Fabrikschmied aus Lippstadt. Eine noch am gleichen Tag in seiner Wohnung vorgenommene Durchsuchung förderte alles zutage, was der Familie Reilmann in den vorausgegangenen Jahren auf Jakobi gestohlen worden war.

Ein halbes Jahr später wurde der Fall vorm Rietberger Amtsgericht verhandelt. Zur Beute des diebischen Lippstädters gehörten neben Bargeld eine silberne Brosche mit Rosenzweig, eine Elfenbeinrose mit Kette, eine silberne Brosche mit acht rötlichen Steinen, eine Korallenkette, eine silberne Halskette mit Medaillon, ein silbernes Gliederhalsband, eine feingliedrige Goldkette und eine goldene Damenuhr. Hinzu kamen eine Kiste Zigarren und acht Tafeln Schokolade. Den Schmuck hatte er seiner Frau und den Töchtern geschenkt, die die gestohlenen Sachen auch trugen, als die Polizei die Wohnung betrat.

Getreu dem Altberliner Ganovenmotto „Erst klau ick, dann bewähr‘ ick mir“ legte es die Verteidigung darauf an, ihren Mandanten mit einer Bewährungsstrafe davonkommen zu lassen. Während der Verhandlung behauptete Hermann L., er sei auf Jakobi 1924 wie von Sinnen gewesen und habe unter einem ihm ganz unerklärlichen Bann gestanden, als er Glockenschlag elf Uhr die Reilmann’sche Wirtschaft betreten habe.

Doch Hermann L. war kein unbeschriebenes Blatt. Im Vorjahr war er in Lippstadt wegen sechs verschiedener Diebstähle zu 14 Tagen Gefängnis verurteilt worden. So hatte er einem Liesborner Landwirt 28 Eier vom Wagen stibitzt. „Ich leide an Kleptomanie“, erklärte er dem Rietberger Gericht – und nannte auch die vermeintliche Ursache: Drei Monate vor seiner Geburt sei sein Vater wegen schweren Einbruchdiebstahls zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden. „Gegen diese erbliche Belastung habe ich immer angekämpft.“ Infolge der Malaria, an der er seit dem Ersten Weltkrieg leide, und durch sechs Todesfälle in der Familie sei seine Willenskraft allerdings so sehr geschwächt worden, dass alle moralischen Hemmungen fielen. „Eine Strafe will ich gern auf mich nehmen“, schloss Hermann L. – aber man möge ihm doch bitte nicht durch Verweigerung der Bewährungsfrist die Möglichkeit nehmen, „wieder ein ordentlicher Mensch zu werden“.

Den als Gutachter beauftragten Rietberger Arzt Dr. Robers konnte der Lippstädter mit seinem Redeschwall nicht überzeugen: In den Aussagen und im Gesamteindruck des Angeklagten entdecke er nichts, was ihn veranlassen könnte, L. für etwas anderes zu halten, als für einen Gewohnheits- und Gelegenheitsdieb. „Es kommt mir allerdings der Gedanke, dass der Angeklagte vielleicht ein Werkzeug des Hellsehers aus Bielefeld ist. Vielleicht handelt L. ja im Einverständnis mit Petzold, um für ihn die Reklametrommel zu rühren.“ Der Angeklagte bestritt daraufhin aufs Entschiedenste, mit dem selbst ernannten Magnetopathen unter einer Decke zu stehen. „Ich habe diesen Petzold in meinem Leben noch nicht gesehen.“ Stutzig machte das Gericht aber eine Aussage von Oberwachtmeister Thesmann: So sei der Hellseher schon früher einmal von der bestohlenen Familie Reilmann um Hilfe gebeten worden. Beim ersten Mal habe Petzold den Jakobimarktdieb aber noch als „einen blonden hochgewachsenen Mann“ beschrieben.

Dr. Theodor Robbers: Ab 1920 prakt. Arzt in Rietberg

Am Ende wurde L. zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Aufgrund des mutmaßlichen Anteils eines Hellsehers an der erfolgreichen Ermittlung beschäftigte sich Mitte der 1920er-Jahre fast die gesamte deutsche Presse mit dem Fall. Aufsehen erregte auch die Stellungnahme einer Gruppe von Strafrichtern, die sich seinerzeit mit der wissenschaftlichen Ergründung der Hellseherei und ihrer etwaigen Verwertung im Dienste der Kriminalistik befassten. „Wir glauben nicht daran und halten rätselhafte Fälle wie diesen in erster Linie für eine scharfsinnige Kombination aus den Angaben der Ratsuchenden über Zeit, Örtlichkeit, Verdachtsmomente usw. und im Übrigen für Zufall. Es ist doch auch anzunehmen, dass gegen die Unzahl unrichtiger „hellseherischer“ Angaben von Magnetopathen usw. die Zahl solcher auf den ersten Blick verblüffender Fälle wie hier verschwindend gering ist.“

War Theodor Petzold in Wirklichkeit ein gewiefter Krimineller, der Gutgläubige um ihr Geld bringt? Schon 1911 hatte ihn die Justiz im Visier. Zur Verhandlung stand der Vorwurf, er bereichere sich in betrügerischer Weise als angeblicher Hellseher. Der Bielefelder Gerichtssaal war bis auf den letzten Platz besetzt. Nach Verlesung der Anklage bekräftigte Petzold, die Gabe des Hellsehens zu besitzen. Würden die Zeugen diese gewagte Selbsteinschätzung bestätigen? Der Rechnungsprüfer Franz Kohlhase berichtete, wie dank Petzolds Hilfe ein Unterschlagungsfall in seiner Firma aufgeklärt werden konnte. Ein aus Köln zum Prozess angereister Mann berichtete, einen verlorenen Ring genau dort wieder gefunden zu haben, wo ihn der Hellseher vermutet hatte: im Klosett, und zwar „an der Stelle, wo die Leitung eine Krümmung macht“. Ein Zeuge nach dem anderen bestätigte unter Eid, Petzold habe die Zukunft enthüllt und Verborgenes ergründet, ohne daraus übermäßigen Profit gezogen zu haben.

Der als Sachverständiger geladene Psychiater Dr. Liebe zuckte mit den Achseln. Eine wissenschaftliche Erklärung für die Zeugenaussagen habe er nicht. Hier handele es sich allem Anschein nach um Übersinnlichkeiten. Irgendwelche den Angeklagten belastenden Momente habe er in der Verhandlung jedenfalls nicht wahrnehmen können. Daraufhin plädierte der Staatsanwalt auf Freispruch: „Dem Angeklagten ist sein Glaube an seine Hellseherei nicht abzusprechen.“ Eine Betrugsabsicht sei daher auszuschließen. Der Verteidiger wies noch darauf hin, dass die Zeugen sich nicht gescheut hätten, für den Angeklagten einzutreten, obwohl jedem klar sei, dass er damit Gefahr laufe, sich in der Öffentlichkeit lächerlich zu machen. Am Ende sprach das Gericht den Angeklagten frei, „er ist kein Betrüger“.

Theodor Petzold veröffentlichte daraufhin eine Danksagung in den Bielefelder Zeitungen: „Durch meinen Freispruch ist der unumstößliche Beweis für ein Wirken des Geistes über die Grenzen von Zeit und Raum hinaus erbracht worden. Möge dieser Kulturfortschritt meinen Gesinnungsfreunden zur Stärkung ihrer Überzeugung dienen, die Gegner und Feinde zum Nachdenken veranlassen, die Gottesleugner zur Umkehr bewegen und der ganzen Menschheit zum Segen gereichen. Das walte Gott!“

Freundlichst überlassen von
– Christoph Motog –
Laumansdruck Lippstadt
Aus dem Original des „Patriot“ vom 20.Jan.1925

Gisbert Schnitker
Heimatverein Mastholte